WIRKSAM: Mit digitalen Identitäten, neuen Kommunikationskanälen und Large Language Modellen soll frischer Wind in das deutsche Gesundheitswesen befördert werden. Was genau ist darunter zu verstehen?
GOTTFRIED LUDEWIG: Digitalisierung ist im Gesundheitswesen kein Spiel mit Nullen und Einsen, sondern die Grundlage für eine bessere Versorgung in Deutschland. Digitale Identitäten, neue sichere Kommunikationskanäle wie der TI-Messenger und der Einsatz von Large Language Modellen – kurz LLM – sind Werkzeuge, mit denen das Gesundheitssystem zum Wohle aller Beteiligten – Patientinnen und Patienten, Ärzteschaft, Pflegekräfte und viele mehr – zukunftsfähig gemacht wird. Damit geht ein Paradigmenwechsel einher. Im Fokus steht der einfache, sichere, schnelle, dezentrale und intersektorale Datenaustausch, von dem alle profitieren.
WIRKSAM: Ihr Unternehmen benennt als Kernfelder seiner künftigen strategischen Ausrichtung Klinik-IT, Cloud und Sicherheit sowie E-Health. Wie wollen Sie damit die Akteure im deutschen Gesundheitswesen vernetzen und deren Leben und Arbeit erleichtern?
GOTTFRIED LUDEWIG: Wir sehen uns als Vernetzer des Gesundheitssystems in Deutschland, aber auch in Ländern wie Österreich, Schweiz, Spanien, USA oder Singapur. Die Telekom Healthcare Solutions bietet eine breite Palette an. Dazu zählen Lösungen für Medizin und Pflege über administrative Systeme für die Krankenhausabrechnung, Finanzbuchhaltung und Personalwirtschaft bis hin zum IT-Betrieb. Darüber hinaus bieten wir Security und Portale an. Neben den klassischen Kernfeldern entwickeln wir auch Künstliche Intelligenz-Lösungen, die die Arbeit im Gesundheitswesen erleichtern. Der Smart Health Chat zum Beispiel ermöglicht eine souveräne, sozialdatenschutzkonforme Nutzung von LLMs mit einer Ende-zu-Ende-Integration. 700 Healthcare-Spezialist*innen arbeiten im gesamten Telekom-Konzern daran, das Gesundheitssystem zu digitalisieren. Dazu gehören Mediziner*innen, Pflegende, Informatiker*innen, Wirtschafts- und Gesundheitswissenschaftler*innen, Ingenieur*innen, Versorgungsforscher*innen und auch Datenexpert*innen.
WIRKSAM: Die Digitalisierung stellt die technische Innovation in den Vordergrund. Wie aber können dadurch andere wesentliche Belange der Pflege, insbesondere Empathie berücksichtigt werden?
GOTTFRIED LUDEWIG: Die Digitalisierung bietet viele technische Innovationen, die das Pflegeumfeld bereichern, ohne dabei die Empathie zu vernachlässigen. Durch den Einsatz digitaler Technologien gewinnen Pflegekräfte sogar mehr Zeit für die Betreuung von Patientinnen und Patienten. Elektronische Patientenakten, kurz ePAs, und automatisierte Dokumentationssysteme ermöglichen eine schnellere und präzisere Erfassung von Patientendaten, wodurch Pflegende von administrativen Aufgaben entlastet werden. Telemedizin und Fernüberwachungslösungen verbessern die Kommunikation zwischen Pflegenden und Patientinnen und Patienten. Dadurch wird zudem eine kontinuierliche Betreuung sichergestellt. Klinische Informationssysteme wie iMedOne® und die mobile Version iMedOne® Mobile helfen den Pflegenden dabei, Daten direkt am Krankenbett abzurufen und diese mit der Patientin oder dem Patienten zu besprechen, in dem sie zum Beispiel mit Schaubildern den Genesungsverlauf darstellen. Das ist direkter, persönlicher und empathischer als es mit den Papierakten oder mit den alten PC-Wagen möglich war.
WIRKSAM: Wie kann durch den innovativen Einsatz von digitaler Technologie das Arbeitsplatzumfeld für Pflegefachkräfte neugestaltet werden und die Attraktivität eines Arbeitsplatzes in der Pflege erhöht werden?
GOTTFRIED LUDEWIG: Digitale Technologien verbessern das Arbeitsumfeld für Pflegende erheblich. Moderne Krankenhausinformationssysteme ermöglichen eine nahezu papierlose Dokumentation und reduzieren somit den Verwaltungsaufwand. Das erhöht auch die Zufriedenheit der Pflegenden. Ein Beispiel ist die Nutzung von KI-gestützten Chatbots, die Pflegende bei der Beantwortung von medizinischen Fragen unterstützen und administrative Aufgaben automatisieren. Darüber hinaus spielen mobile Diagnosegeräte eine wesentliche Rolle bei der Optimierung des Pflegealltags. Tragbare EKGs und Blutdruckmonitore ermöglichen es Pflegenden, Patientinnen und Patienten unterwegs zu überwachen und sofort medizinische Entscheidungen zu treffen. Solche Technologien unterstützen nicht nur eine proaktive Versorgung, sondern verringern auch die Anzahl der Notfälle. Wir haben im Februar eine WiFi-Sensing- Lösung mit Raumüberwachung vorgestellt. Dabei kommen Sensoren zum Einsatz, die einen Sturz registrieren und die Herzfrequenz überwachen. Bei einem Notfall im Haushalt erhalten Familienmitglieder oder eine Ärztin oder ein Arzt automatisch eine Benachrichtigung. VIS Á VIS VIS Á VIS Dr. Gottfried Ludewig, Geschäftsführer Telekom Healthcare Solutions im Gespräch mit WIRKSAM Herausgeber Holger Menk über die Möglichkeiten der digitalen Lösungen für das Gesundheitswesen.
WIRKSAM: Gibt es darüber hinaus noch weitere Lösungen?
GOTTFRIED LUDEWIG: Telehealth-Technologien haben zum Beispiel ebenfalls einen bedeutenden Einfluss auf die Attraktivität des Pflegeberufs. Sie ermöglichen es Pflegenden, Patientinnen und Patienten in abgelegenen oder schwer erreichbaren Gebieten zu versorgen. Telehealth reduziert die Notwendigkeit von Besuchen in der Klinik, was sowohl Zeit als auch Ressourcen spart. Die Technologie bietet Pflegenden flexible Arbeitsmöglichkeiten und damit eine höhere Work-Life-Balance. Zudem können ältere Menschen länger zu Hause bleiben. Rund 80 Prozent der Pflegebedürftigen werden derzeit bereits daheim versorgt und ihre Zahl wächst weiter. Wir müssen Technologie einsetzen, um Angehörige und Pflegende zu entlasten und gleichzeitig eine qualitativ hochwertige Pflege sicherzustellen.
WIRKSAM: Wie sieht es mit dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) in diesem Bereich aus?
GOTTFRIED LUDEWIG: An künstlicher Intelligenz und prädikativer Analytik führt kein Weg vorbei. KI-gestützte Systeme helfen Pflegenden, Risiken frühzeitig zu erkennen, beispielsweise durch Vorhersagen über das Sepsis-Risiko. Diese Technologie unterstützt Pflegende dabei, präventive Maßnahmen zu ergreifen. Das erhöht die Sicherheit von Patientinnen und Patienten. Außerdem automatisieren KI-gestützte Assistenten administrative Aufgaben. Die Integration solcher digitalen Lösungen fördert nicht nur die Effizienz, sondern verbessert auch die Arbeitszufriedenheit und die Qualität der Betreuung.
WIRKSAM: Welche Kooperation, zum Beispiel beim Krankenhausentlassmanagement sind derzeit angedacht und wie kann dadurch eine begleitende Versorgung der Patient*innen sichergestellt werden?
GOTTFRIED LUDEWIG: Digitales Entlassmanagement ist ein essenzieller Bestandteil in der Versorgung. Wir kooperieren zum Beispiel mit Recare und stellen Kliniken eine Plattform zur Verfügung, die dabei hilft, die Grenzen zwischen Krankenhäusern, niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten, Reha- und Pflegeeinrichtungen zu überwinden. Patientinnen und Patienten erhalten nahtlos ihre Anschlussversorgung und das Krankenhaus profitiert durch den digitalen Abgleich der Kapazitäten von passenden Versorgern.
WIRKSAM: Welche Lösungen bietet Ihr Unternehmen insbesondere für pflegende Angehörige an? Stichwort Messenger?
GOTTFRIED LUDEWIG: Wir bieten für pflegende Angehörige eine Reihe von digitalen Lösungen an, die die Pflege erleichtern und die Kommunikation verbessern. Ein Beispiel ist der TI-Messenger, der speziell für den Gesundheitssektor entwickelt wurde. Diese sichere Kommunikationsplattform ermöglicht es pflegenden Angehörigen, sich schnell und effizient mit Pflegenden und Ärzteschaft auszutauschen. Der TI-Messenger ist ein Kommunikations-Tool, das für alle Gesundheitsberufe deutschlandweit in Echtzeit verfügbar ist. Mit einer Zulassung der gematik können über den TI-Messenger alle Gesundheitsberufe wie Ärzteschaft, Pflegende oder Apotheker*innen miteinander kommunizieren. Über ein gemeinsames bundesweites Adressbuch werden die Kontaktdaten von Krankenhäusern, Arztpraxen oder Apotheken mit wenigen Klicks gefunden. Der TI-Messenger ist einfach zu bedienen und kann sowohl auf Smartphones als auch auf Desktop-PCs genutzt werden. Er ermöglicht das Versenden und Empfangen von Sofortnachrichten und größeren Datenmengen ähnlich wie bei WhatsApp, jedoch mit mehrfacher Absicherung gegen den Zugriff durch Dritte. Die Zielgruppe war zunächst die Ärzteschaft. Wir integrieren den TI-Messenger aber auch in Apps von Krankenkassen, so dass mittelfristig auch Patientinnen und Patienten direkt mit ihrer Ärztin oder Arzt Nachrichten austauschen.
WIRKSAM: Wie beurteilen Sie den Stand der Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen, insbesondere im europäischen Vergleich?
GOTTFRIED LUDEWIG: Das Bundesgesundheitsministerium hat mit seinen Digitalgesetzen gute Grundlagen gelegt. Das wird auch den Standort Deutschland stärken. Insofern hat und wird sich einiges in die richtige Richtung entwickeln. Positive Beispiele sind das elektronische Rezept, die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und die digitalen Gesundheitsanwendungen. Im Vergleich zu anderen Ländern liegen wir aber bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens zehn bis fünfzehn Jahre zurück. Wir müssen die Geschwindigkeit deutlich steigern. Dazu müssen zum Beispiel Debatten um die Auslegung der Europäischen Datenschutzgrundverordnung durch 16 Landesdatenschutzbeauftragte schnellstmöglich der Vergangenheit angehören.
WIRKSAM: IT-Lösungen für Medizin und Pflege, administrative Systeme für die Krankenhausabrechnung, Finanzbuchhaltung und Personalwirtschaft bis hin zum IT-Betrieb sind sicherlich notwendig. Wie sollen diese Projekte gegenfinanziert werden?
GOTTFRIED LUDEWIG: Dafür gibt es zwei Lösungen. Das Bundesgesundheitsministerium muss die Investitionen in zukunftsfähige Technologien fördern wie das zum Beispiel durch das Krankenhauszukunftsgesetz passiert ist. Und danach muss sichergestellt werden, dass die Krankenversicherungen solche Leistungen auch abrechnen. Zum Beispiel eine telemedizinische Behandlung.
WIRKSAM: Welche politischen Rahmenbedingungen sind Ihrer Meinung nach erforderlich, damit es zu einer schnelleren Umsetzung der Digitalisierung kommen kann?
GOTTFRIED LUDEWIG: In Europa diskutieren wir zumeist nicht, wie Innovationen gelingen können, sondern lieber welche Regeln sie brauchen. Ich frage mich manchmal, ob wir am Ende der Kontinent sein wollen, der für den Fortschritt die Regeln macht. Und die anderen treiben den Fortschritt. Auf Dauer wird das nicht funktionieren. Nur wenn Fortschritt auch ‚Made in Europe‘ stattfindet, werden wir uns ein modernes Gesundheitssystem auch dauerhaft leisten können. Konkret brauchen wir Offenheit und Förderung beispielswiese für KI-Anwendungen oder Cloud-Transformationen.
WIRKSAM: Mit den Versicherten von AOK und Barmer verfügen künftig 50 Prozent aller gesetzlich Versicherten über eine digitale Identität der Telekom. Die meisten können mit dem Thema aber noch wenig anfangen. Viele haben Angst vor dem gläsernen Patienten und sorgen sich um die Datensicherheit…
GOTTFRIED LUDEWIG: Dabei ist es gerade die Datensicherheit, die mit den digitalen Identitäten einen Quantensprung macht. Aber es stimmt, das Thema ist noch längst nicht überall verstanden. Deutschland ist Weltspitze im Erfinden, aber schlecht im Erklären. Wir müssen die Menschen mitnehmen. Nach einer aktuellen Umfrage des BITKOM befürworten 89 Prozent der Bürger die Digitalisierung im Gesundheitswesen. 71 Prozent wollen sogar mehr Tempo. Fast jeder Zweite fühlt sich damit aber überfordert.
WIRKSAM: Wie erklärt man das Thema jemandem, der keinen Ingenieurstitel hat?
GOTTFRIED LUDEWIG: Das ist nicht schwer: Denn wir alle haben heute bereits zahlreiche digitale Identitäten. Immer, wenn mich eine Webseite auffordert, für den Log-in einen Nutzernamen und ein Passwort anzulegen, erstelle ich eine einfache digitale Identität. Das Problem daran ist: Erstens haben wir alle sehr viele digitale Identitäten. Viele blicken durch ihren Passwortdschungel längst nicht mehr durch. Und zweitens: Wir wissen nicht, was die Betreiber*innen einer Webseite mit diesen Daten machen. Verkaufen sie diese zu Werbezwecken weiter? Schützen sie meine Zugangsdaten? Oder sind sie leichte Hacker-Beute, weil die Anbieter*innen bei der Sicherheit schwächeln? Wir haben darüber keine Kontrolle. Und da sagt die EU: Geht nicht, Europas Bürger sollen souverän entscheiden können, was mit ihren Daten geschieht. Daher führen alle Mitgliedstaaten sichere digitale Identitäten ein. In Deutschland nutzen wir dazu den elektronischen Personalausweis. Damit lässt sich eine digitale Identität auf sehr hohem Sicherheitsniveau erstellen. Diese ID ist der Schlüssel, mit dem der Versicherte über seine Kassen-App in seine Patientenakte schauen oder E-Rezepte einlösen kann. Sichere digitale Identitäten werden uns künftig bei Bankgeschäften und Bürgerdiensten helfen, beim Buchen von Reisen, beim Gebäudezutritt. Eine sichere ID auf dem Smartphone kann künftig auch Autotüren öffnen und den Motor starten. Das Gesundheitswesen ist hier Vorreiter für viele Branchen.
WIRKSAM: Wo sehen Sie die Digitalisierung in den nächsten 15 Jahren und welche Aufgaben im Interesse der Pflege soll Ihr Unternehmen bis dahin umgesetzt haben?
GOTTFRIED LUDEWIG: Die Digitalisierung wird das Gesundheitswesen in den kommenden Jahren revolutionieren. Und das muss auch so sein. Wir haben immer weniger Pflegende, Ärztinnen und Ärzte, die immer mehr Pflegebedürftigen betreuen müssen. Stichwort: Demografischer Wandel. Die Digitalisierung wird helfen, die Lücke zu schließen, in dem zum Beispiel Dokumentationsaufgaben automatisiert werden. Künstliche Intelligenz, maschinelles Lernen und Big Data-Analysen werden die Instrumente sein, mit deren Hilfe die Digitalisierung umgesetzt wird. Basis dafür sind Erweiterung der Telematikinfrastruktur, die Einführung von digitalen Gesundheitsakten und die Entwicklung von Plattformen zur Unterstützung der personalisierten Medizin. Am Ende wollen wir helfen, Daten so zusammenzuführen und aufzubereiten, dass eine bessere Medizin erfolgreich ist.